Wie der Müll Frieden schuf und die Soziologie den Zufall entdeckte

“Soziologie 2050 – Wie sieht die Soziologie der Zukunft aus?” Unter diesem Motto haben wir unsere Leser befragt und zur Teilnahme an einem Aufsatzwettbewerb aufgerufen. Jeden Montag veröffentlichen wir nun einen der Beiträge. Diese Woche: Marta Mysik sieht eine neue Eiszeit heranziehen, eine neue Müllkultur entstehen, und die Entdeckung des Zufalls durch die Soziologie.

Pinguin

Einsamer Tourist am Trafalgar Square 2050 / creative commons licence by mikehipp, some rights reserved

Einige KlimaforscherInnen stellten bereits Anfang des neuen Jahrtausends die These auf, dass die globale Klimaerwärmung ein Vorbote einer Eiszeit sein würde. Diese Prognose zeichnete sich dann in den zweitausenddreißiger Jahren als eine richtige ab und die Vereisung des europäischen Kontinents nahm ab da an einen rapiden Verlauf an. Das Eis breitete sich bis Mitteleuropa aus und drängte die gesamte Bevölkerung auf die Hälfte des Kontinents zusammen. Skandinavien, Großbritannien und der Norden der Kontinentalplatte waren unbewohnbar. Lediglich kleine Menschenmengen, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, lebten unter erschwerten Bedingungen, oftmals getrennt von der Kontinentalbevölkerung, in den sogenannten „verlorenen Staaten“.

Obwohl ein gewisser Teil der EuropäerInnen ihre neue Heimat auf den restlichen Kontinenten fanden, haben sich doch die Meisten in Mittel- und Südeuropa angesiedelt. Die Bemühungen neue Lebensräume zu schaffen, Wohnungen zu bauen, die Infrastruktur zu verdichten, bereits vorhandene Räume dichter zu besiedeln, bildeten eine große Herausforderung an die Ordnungspolitik und die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation. Politische Strukturprogramme gaben beispielsweise die maximale Quadratmeteranzahl, Energie- und Wasserverbrauch pro BewohnerIn vor. Nichtsdestotrotz bewohnten viele Menschen provisorische Behausungen sowohl an den Rändern der Städte als auch auf dem Land.

Eine weitere Konsequenz der Eiszeit und der Umsiedlung bestand in der Ansiedlung unterschiedlicher Nationalitäten in den noch verbliebenen bewohnbaren Staaten. Obwohl Europa sowohl politisch als auch kulturell immer enger zusammengewachsen war, entstanden separierte ethnische Enklaven. All diese Umstände bargen ein enormes Gewaltpotential in sich. Und doch, trotz Kälte, Enge, Nahrungsknappheit, infrastrukturellen Unzulänglichkeiten und kulturellen Unterschieden brach kein Krieg aus, Straftaten nahmen sogar im Vergleich zu der Zeit vor dem Einbruch der Eiszeit ab.

Die SoziologInnen standen vor einem theoretischen Problem: Wie kam es dazu, dass trotz widrigster Umstände die gesellschaftliche Struktur sich anpassen und stabilisieren konnte, ohne in Gewalt und Chaos zu versinken? Im Gegenteil schien die Gewaltbereitschaft sogar rückläufig zu verlaufen – die Menschen wurden friedlicher, kooperierten bereitwilliger. Vor allem die TheoretikerInnen sozialer Pathologien, die vor chaotischen Zuständen immer wieder gewarnt hatten, konnten ihren Augen, Ohren und Daten kaum Glauben schenken.

Auf dem SoziologInnentag im Jahr 2050 wurde dieses Phänomen hitzig diskutiert. Man entschloss sich zudem vor allem jungen TheoretikerInnen das Wort zu überlassen, von denen sich die alte Liga neue theoretische Ansätze erhoffte – so verzweifelt war die Lage. Trotz zahlreicher theoretischer Lager und Streitgespräche konnte sich ein Erklärungsansatz hervorheben, der, wie sich in kommenden Jahren herausstellen sollte, einen neuen Schwerpunkt in der Soziologie bereitet hat.

Dr. S. ist ein merkwürdiges Phänomen aufgefallen, von dem sie annahmen, dass es mit dem Zustand der friedlichen Koexistenz korrelierte: Bereits seit geraumer Zeit schienen die Menschen ein neuartiges Verhältnis zu ihrem Müll entwickelt zu haben. Sie entsorgten es nicht wie eh und je, sondern fingen an sich dafür zu interessieren, es zu sammeln, zu sortieren und weiter zu verarbeiten. So entstanden die unterschiedlichsten Formen, mit Abfällen zu verfahren. Der Kreativität waren kaum Grenzen gesetzt: Kunstwerke aller Art von Gemälden über Skulpturen, Kollagen und Möbelherstellung entstanden. Zudem fingen die technisch Begabten an, entweder bereits vorhandene Gerätschaften und Maschinen mit den zur Verfügung stehenden Abfällen nachzubauen oder auch neue zu erfinden. Zunächst verblieb es ein privates Hobby, welchem man innerhalb der eigenen vier Wände frönen konnte. Doch nach und nach gestattete auch der Staat diesem, von so gut wie Allen praktizierten Phänomen den öffentlichen Raum.

Es eröffneten sich Betätigungsfelder unermesslichen Ausmaßes: Die bis dahin eher kahlen, kalten, eisernen und verbetonierten Straßen und Häuser boten allerlei Flächen und Räume für die künstlerischen und technischen Anwandlungen der BewohnerInnen. Weil die Architektur so wie auch die Inneneinrichtung der Arbeitsplätze ein an Ignoranz grenzendes Bild abgaben, war jegliche Veränderung willkommen.

Ein weiteres Phänomen begünstigte diese Bewegung: Da der Staat am meisten die Arbeitslosigkeit fürchtete, wurde per Gesetz Teilzeitarbeit verabschiedet. Die meisten Menschen hatten so eine 20 Stunden Woche und eine Menge Zeit um sich anderen Beschäftigungen zu widmen. So sammelten sie akribisch ihren Müll und schmückten damit die kahlen Wände der Bürohäuser und Einkaufszentren. Sie gestalteten damit auch ihre Arbeitsplätze: die rein funktionalen, eindimensional wirkenden, wie für Strichmännchen konstruierten Büromöbel, die kahlen Wände, das weiße, grelle Licht, die grauen Jalousien.

Da die bisherigen optischen Gegebenheiten sehr viel zu Wünschen übrig ließen und die Menschen Muße und Zeit für ihre kreativen Betätigungen hatten, gab es kaum ernsthafte Streitigkeiten ob der Art der Gestaltung. Lediglich die Lobby der ArchitektInnen störte sich ernsthaft an der „Herumpfuscherei“ an ihren Werken. Doch auch sie reagierten auf das neu entfachte Bedürfnis nach Farbe und Form und passten ihre Entwürfe nach und nach an.

Dr. S. stellte fest, dass eine neuartige Strategie in der Besetzung von Räumen entstand. Interessant dabei war, dass nicht Räume für ethnische, kulturelle oder politische Eigenarten besetzt werden sollten. Dieser Umstand war ersichtlich, weil keine politischen Symbole, keine Zeichen einer bestimmten kulturellen Identität im Vordergrund standen. Die entstandenen Muster und Figuren konnten keiner, sei es politischen, kulturellen oder auch künstlerischen Tradition zugeordnet werden. Sie schienen spontan und zufällig entstanden zu sein, scheinbar ohne Zusammenhang und Sinn.

Noch merkwürdiger als die scheinbare Zusammenhanglosigkeit dieses Unterfangens waren die offensichtlichen Parallelen zu anderen Formen der Raumbesetzung, die die WissenschaftlerInnen unter diesen Umständen eher vermuteten: Wie war es möglich, dass trotz dieser widrigen Lebensbedingungen, die Bevölkerung nicht in territoriale Kämpfe ausgebrochen war? Warum wurde der Raum nicht auf traditionelle, bis dahin bekannte, Weise besetzt?

Es muss, wurde Dr. S. klar, eine merkwürdige Konstellation zahlreicher Umstände zusammengewirkt haben: Der zur Verfügung stehende Lebensraum war nicht klein genug, als dass die Menschen es mit aller Macht verteidigen wollten. Der Staat verfügte zudem weiterhin über die legitime Gewaltanwendung. Nicht zuletzt hatten sich die europäischen Kulturen über die Zeit immer weiter angenährt und sind so zu einem heterogenen Kulturkreis zusammengewachsen. Erwähnenswert bleibt auch der Umstand, dass ziviler Protest seit geraumer Zeit immer neue kreative Formen zu entwickeln suchte, die ohne Gewaltexzesse politischen Erfolg verzeichneten. Man könnte sagen, die Menschen waren physische Gewalt nicht mehr gewöhnt. Und ja, die bedauernswerte Architektur, die wohl mehr störte als die Enge in der Straßenbahn, auch sie war ausschlaggebend.

Dr. S. gelangte nach intensiven Überlegungen zu der Ansicht, dass das Phänomen der kreativen Müllanwendung, nicht aus einer einzigen Ursache erklärt werden konnte. Vielmehr war sie das zufällige Produkt allerlei Umstände, die angestoßen von der Eiszeit, zusammenwirken konnten und das Phänomen der Müllkunst förderten. Lediglich rückwirkend konnten die Ursachen aufgelistet werden, konnte eine kohärente Geschichte konstruiert werden. Aber erklärte sie auch etwas? War sie nicht ihrerseits ein Produkt des Zufalls? Und: Welche Aufgabe hatte die soziologische Theorie dann noch, wenn sie alles behaupten konnte, was prinzipiell möglich war?

Seit den Erkenntnissen von Dr. S. stand die soziologische Theoriebildung vor einem neuartigen Problem. Gewöhnt an klare kausale Zuordnungen, an Ursprünge, sah sie sich mit einem sozialen Phänomen konfrontiert, welches weder notwendig aus den vorhergehenden Ereignissen erklärbar, noch prinzipiell unmöglich war.

Auf diese Weise fing die Soziologie damit an, sich intensiv mit dem Faktor Zufall zu beschäftigen. Nicht im begrifflich philosophischen Sinne, hier spielte es bereits seit einigen Jahrhunderten eine entscheidende Rolle. Die Soziologie des Zufalls, womit später einige Lehrstühle betraut wurden, untersuchte Erklärungsmethoden für gesellschaftliche Entwicklungen, die eine Alternative zu den herkömmlichen kausalen Erklärungen abgeben konnten.

Nicht dass der Zufall bis dahin keine Rolle in der Soziologie spielte. Der Begriff der Kontingenz, der sowohl die Notwendigkeit als auch Unmöglichkeit von Ereignissen negierte, war seit geraumer Zeit bekannt. Doch verzichtete man darauf, näher auf diesen Umstand einzugehen. Er wurde als eine quasi schicksalhafte Eigenart des sozialen Wandels wahrgenommen aber nicht weiter in theoretische Überlegungen einbezogen.

Dr. S. erkannte dagegen den Zufall als einen entscheidenden Bestandteil des sozialen Wandels. Die Fragen, die sie prägte, lauteten: Wenn die gesellschaftliche Entwicklung eine zufällige ist, sie also nicht kausal erklärt werden kann, können dann noch sozio-historische Gesetze formuliert werden? Auf welche Weise entstehen das eine Mal soziale Anomien und das andere Mal soziale Integration? Und, wenn wir nicht dem metaphysischen Fehlschluss unterliegen wollen und alles dem Zufall zuschreiben wollen, was ist das Außen des Zufalls?

Die Schwäche von Dr. S. bestand darin, dass sie immer wieder auch in philosophische Grübeleien verfiel. Sie selbst allerdings wertete es als eine Tugend und propagierte nicht selten die Notwendigkeit des philosophischen Unterbaues für die Soziologie, welches wiederum ihre KollegInnen nicht selten nervte. Jedenfalls spürte sie, dass das Problem des Zufalls nicht nur die lebensweltlichen Ereignisse betraf. Vielmehr tangierte es auch die Soziologie, eigentlich jede Wissenschaft. Wenn nämlich alles behautet werden konnte, so lange die Kriterien der Logik und Überprüfbarkeit gewährleistet waren, war die soziologische Theorie nichts anderes als eine Geschichte, eine fiktive Erzählung und so nicht wahr aber auch nicht falsch. Welcher Raum eröffnete sich hier für die Soziologie?

Dr. S. kam ein Gedanke, der sie zwar nicht überzeugte, das konnte es auf Grund seiner Natur nicht, aber den sie trotzdem öffentlich äußerte: Eines, so ihre These, konnte man behaupten, nämlich, dass wir nicht mit eindeutiger Sicherheit wissen können, was die Soziologie ist oder welche Funktion sie je hatte oder haben wird. Und noch weniger können wir planen, was aus ihr wird. Sie wußte, dass es ein unbefriedigender Schluss war, aber gleichzeitig wusste sie auch, dass der Drang, gesellschaftliche Phänomene zu beobachten und darüber zu schreiben, dadurch nicht erloschen war. So lange nämlich solch merkwürdige Dinge wie die kollektive Müllkunst geschahen, und es Menschen gab, die sich darüber wunderten, gab es auch Soziologie, in welcher Form auch immer.

Niemand glaubte ernsthaft daran, dass Dr. S. nach diesen Veröffentlichungen einen Lehrstuhl angeboten bekommen würde. Allerdings verändern sich die akademischen Gepflogenheiten, wie der Zufall so will, manchmal fast so schnell wie das Klima.

Marta Mysik |Dipl. Sozialwissenschaftlerin | Humboldt Universität zu Berlin

3 Responses to “Wie der Müll Frieden schuf und die Soziologie den Zufall entdeckte”


  1. 1 Laser 6. July 2009 at 21:23

    Ich muss an dieser Stelle definitiv die Autorin loben: Dieser Versuch einer Zukunftsvision ist auf jeden Fall gelungen! 🙂
    Aktuelle Debatten um die Klimafrage werden mit lustigen Elementen (ich sehe die detaillierte Tätigkeitsbeschreibung des Mülls mal als lustig an), ebenso wie mit soziologischen Theorien verknüpft.
    So machen soziologische Texte Spaß,

    schreibt ein Soziologie Student des 2. Semesters (aus Jena)
    und wünscht noch einen schönen Abend.

    • 2 Marta Mysik 7. July 2009 at 09:18

      Es freut mich sehr, dass das Lesen Spaß gemacht hat. Meiner Meinung nach sind viele soziologische Texte schwer zu verdauen, weil sie so langweilig geschrieben sind. Ein wenig Fantasie schadet keiner Wissenschaft – im Gegenteil. An dieser Stelle bedanke ich mich bei den Homo Sociologicus Autoren für die Möglichkeit der Veröffentlichung und freue mich über jede weitere Kritik.

  2. 3 Jotes 27. November 2009 at 13:31

    der Text ist unterhaltsam ja.

    Aber leider in edn “Klimafragen” sehr unpräzise.
    Zudem erinnert die Art wie “Frieden” an nette romantische Vorstellungen a la 1984, Utopia etc. … so dass ich als Kkritische Leserin geneigt bin zu säufzen und “ach wie schön…” zu sagen. Aber die kritische Soziologie gibt es in dieser weich gezeichneten 2050 Welt ja nicht mehr.
    “Ach wie schade…”


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